Mut zur Macht:
Plädoyer für einen bewussten Umgang mit einem mächtigen Phänomen

von Barbara Müller-Geskes und Carolin Schwarz

Was Macht mit uns macht

„Mit Macht will ich nichts zu tun haben!“ Wie oft haben wir diesen Satz in unserem Leben schon gehört. Aus dem Mund von klugen, begabten und fähigen Menschen. Das Phänomen der Macht hat ein denkbar schlechtes Image. Wer den Begriff „Macht“ in einer Suchmaschine eingibt, wird mit einer Fülle von Zitaten und Beispielen überschüttet, die ein sehr dunkles Bild von Macht widerspiegeln. Von: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut“ (Lord Acton), über „Machtgelüste sind die entsetzlichsten aller Leidenschaften“ (Tacitus) und „Blutrot sind die Gedanken der Mächtigen“ (Jürgen Winkler) oder „Macht ist gefährlich, wenn der Inhaber nicht über ausreichend Integrität verfügt, um sie verantwortungsbewusst auszuüben“ (John C. Maxwell) bis zu „Macht wird zu oft missbraucht, um Menschen zu unterdrücken, anstatt sie zu befähigen.“ (Richard Branson)

Doch wer nur auf die dunkle Seite der Macht blickt, der greift zu kurz.

Theorien der Macht

Wie stark das Phänomen der Macht Menschen fasziniert und beschäftigt, belegt die Fülle an wissenschaftlichen Untersuchungen und Abhandlungen zu diesem Thema. Tiefgreifende Gedanken und Analysen, die wir hier an dieser Stelle ausdrücklich für eine weitere Beschäftigung empfehlen. Zumindest eine kleine Auswahl, die uns besonders geprägt hat, finden Sie am Ende dieses Artikels.

Auf Basis dieser Ansätze möchten wir aus unserer Perspektive als Praktikerinnen, Führungskräfte und systemische Beraterinnen auf das Thema Macht schauen. Denn Fakt ist auch, dass die Breite der Auseinandersetzung mit dem Thema Macht bis heute in vielen Unternehmen noch nicht angekommen ist. Wir möchten einen Rahmen anbieten, um über das Thema Macht nachzudenken und sich im Sinne einer konstruktiven Anwendung von Macht zu positionieren, um mit Fokus und Sinn gestalten zu können.

Macht, der Elefant im Raum

Wir haben in unseren jeweiligen Rollen in den Geschäftsleitungen von sehr unterschiedlichen Unternehmen viel dazu erlebt: Macht als „grauer Elefant“ im Raum, Macht, über die nicht gesprochen wird und so oft zu Ohnmacht führt, die sehr unterschiedliche Art und Weise, wie Frauen und Männer mit Macht umgehen… oder sie vermeiden…

Und oft haben wir uns – gerade auch als weibliche Führungskräfte – einen offensiveren Umgang mit dem Thema gewünscht. Eine offene Reflektion anhand einer guten Struktur, die zu mehr Klarheit und einem gezielteren Umgang mit Macht führt. Darüber haben wir nachgedacht, recherchiert und einen Denkrahmen entwickelt, und den wir hier gerne teilen.

Eigene Darstellung, Quelle: unsplash.com

Denn wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Gewissheiten gehen verloren. Kriege, Krisen und Katastrophen verändern unsere Rahmenbedingungen. Wir müssen reagieren auf die großen und umwälzenden Veränderungen, die wir erleben, wenn wir nicht nur Zuschauer unseres eigenen Lebens werden wollen. Dazu ist es notwendig, dass wir Verantwortung übernehmen und gestalten. In unserem eigenen Leben, in Organisationen wie auch in unserer Umwelt. Und dafür brauchen wir Macht. Macht, die mit Sinn verbunden ist, ethisch legitimierte Macht, Macht ohne Zwang und Sanktionen, sondern verbunden mit Freiheit. Das bedeutet nicht, dass Menschen (m/w/d) Macht nicht sehr unterschiedlich ausüben können und sollen – es bedeutet vielmehr, dass es darum geht, Macht bewusst zu verwenden und ihren Einsatz genau zu reflektieren.

Sobald zwei Menschen im Raum sind, ist auch die Macht anwesend.

Fakt ist, dass jede und jeder von uns schon einmal in der Position war, Macht auf andere auszuüben – und sei es beim täglichen Streit um die Frage, was es zum Abendessen geben soll! Sobald zwei Menschen im Raum sind, ist auch die Macht anwesend. Jeder Mensch verfügt über Macht. Doch viele leben ihre mächtige Seite nicht, weil ihre negative Einstellung zur Macht sie daran hindert.

Wie kommt es zu dieser negativen Einstellung? Wie entsteht Macht? Wer hat sie und wie wird sie ausgeübt? Was macht Macht mit Menschen? Gibt es gute und schlechte Macht? Das sind nur einige der wichtigen Fragen, die wir bearbeiten und für uns persönlich beantworten müssen, wenn wir uns einen souveränen Umgang mit Macht wünschen.

Macht als die Fähigkeit, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen

Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir ganz selbstverständlich den Begriff der Macht verwenden? Eine klare und eindeutige Definition gibt es nicht. Ganz im Gegenteil. Rund um die Macht herrscht theoretisches Chaos. Juristische, politische und soziologische Vorstellungen von Macht stehen einander unversöhnt gegenüber. Die gegensätzlichen Vorstellungen könnten nicht weiter voneinander entfernt sein. Die einen bringen die Macht mit Gewalt in Verbindung, die anderen mit Freiheit.

Für eine erste Annäherung hilft es vielleicht, sich klarzumachen, woher das Wort stammt. Etymologie kann da helfen. Das deutsche Wort „Macht“ kommt aus dem Indogermanischen. „Mag“ oder „magh“ bedeutet schlicht „Fähigkeit“. Wenn wir dieser Herleitung folgen, geht es bei Macht also schlicht um die Fähigkeit, etwas zu bewirken.

Zumindest im deutschsprachigen Raum ist die Definition des Soziologen Max Weber (1864-1920) am stärksten verbreitet. Doch der Fokus auf einzelne Definitionen verengt den Blick auf Macht unnötig. Wir leben in einer komplexen Welt: Menschliche Beziehungen sind hochkomplex. Denken, Handeln und Fühlen genauso. Und auch Macht ist ein hochkomplexes Konstrukt.

Wie könnte also eine vielfältigere systemische Perspektive auf Macht aussehen? Wir möchten ein deutlich positiveres und stärker mit Freiheit, Beziehung und Vermittlung verbundenes Bild der Macht ins Zentrum der Betrachtung rücken. Solche Definitionen und Ansätze finden sich schon bei der Philosophin Hanna Arendt (1906-1975) aber auch in der Gegenwart bei dem koreanisch-deutschen Philosophen und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han, zuletzt Professor für Philosophie an der Universität der Künste in Berlin.

„Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“

Hannah Arendt

Wenn wir Macht für uns persönlich, aber vor allem im Kontext von Organisationen, neu denken und leben wollen, dann müssen wir die Essenz und die wesentlichen Gedanken, Theorien und Konzepte nutzen, um uns ein eigenes Bild zu schaffen.

Die 4 Perspektiven der Macht

Dafür haben wir verschiedene „Scheinwerfer“ auf das Thema Macht gerichtet. Jeder einzelne der vier Scheinwerfer ermöglicht eine spezielle Perspektive. So entsteht in Summe ein ganzheitlicher Blick auf unsere persönliche Macht. Die vier Perspektiven stehen dabei miteinander in dynamischen Wechselbeziehungen und sind immer Teile eines dynamischen Systems.

Mit folgenden Fragen lassen sich die Perspektiven der jeweiligen Scheinwerfer erkunden:

Legitimation (Individuell & Innen):
Hier geht es um die eigene Erlaubnis zur Macht.

Damit wir Macht bewusst einsetzen und in „machtvollen“ Situationen souverän agieren können, ist es wichtig, unsere persönliche Einstellung zur Macht zu kennen und zu verstehen. Erst auf dieser Basis wird es möglich, sich selbst zur Macht zu ermächtigen. Zur Klärung helfen folgende Fragen:

  • Welches persönliche Verhältnis habe ich zu Macht und welche Erfahrungen mit Macht haben mich geprägt?
  • Schreckt mich Macht ab oder zieht sie mich an?
  • Nehme ich Macht an oder lehne ich sie eher ab?
  • In welchen Situationen ergreife ich Macht und welchen Preis bin ich bereit, dafür zu zahlen?

Machtausübung (Individuell & Außen):
Hier geht es um die Art und Weise, wie Menschen in machtvollen Positionen agieren.

Macht kann in sehr unterschiedlicher Weise sicht- und spürbar werden. Das Spektrum der Machtausübung reicht von direktiv, manipulativ oder sogar gewaltvoll bis zu kooperativ und sinnstiftend. Hilfreiche Reflexionsfragen sind hier:

  • Wie übe ich Macht aus?
  • Versammle ich Menschen hinter mir, überzeuge ich, lasse ich Wahlfreiheit oder übe ich Druck aus und bestimme, ohne Handlungsalternativen zu geben?
  • Welche Art und Weise der Machtausübung beobachte ich bei Menschen um mich herum?

Machtressourcen (Kollektiv & Innen):
Hier geht es darum, was der Ursprung unserer Macht ist.

Jeder ist mit Macht ausgestattet. Mit der Geburt in ein bestimmtes Umfeld wird der Grundstein gelegt und über die Jahre eignen wir uns weitere Machtressourcen an (z.B. Wissen, Kontakte, Rollen, die wir einnehmen, usw.). Sich der eigenen Machtressourcen bewusst zu sein, ist Voraussetzung dafür, sie verantwortungsvoll einsetzen zu können:

  • In welche sozialen Kreise wurde ich geboren, bin ich aufgewachsen und bewege ich mich heute?
  • Über welches soziale Netzwerk verfüge ich?
  • Welche Rolle habe ich heute inne und welche Stellung nehme ich ein?
  • Welches Wissen oder welche Zugänge zu Informationen habe ich?
  • Welche materiellen Ressourcen stehen mir zur Verfügung?

Machtkontext (Kollektiv und Außen):
Hier geht es um das Umfeld, in dem sich Macht entfaltet.

Der Kontext, in dem wir Macht einsetzen, entscheidet darüber, welche Wirkung die Macht entfaltet und welche Kraft sie entwickelt. In jedem Umfeld gelten eigene Regeln. Jeder Kontext verlangt nach einer anderen Legitimation sowie Ausübung von Macht und birgt unterschiedliche Risiken des Machtmissbrauchs in sich. So kann die gleiche Person zum Beispiel ihre Macht im familiären Kontext ganz anders ausüben, als in der Organisation, der sie angehört. Hilfreiche Überlegungen sind hier:

  • Welche Rollen nehmen wir in welchem Umfeld ein?
  • Wie unterscheidet sich unsere Machtausübung je nach Umfeld?
  • Welche Machtinstrumente wenden wir nur in einem speziellen Kontext an?
  • In welchen Kontexten verbieten wir uns selbst, Macht anzuwenden?
  • In welchem Kontext wirkt unsere Macht am stärksten?
  • Wie Rollen-abhängig ist unsere Macht?

Die Fragen sind beispielhaft zu verstehen und dienen nur für eine erste Annäherung an das Thema Macht. Im Hintergrund der Perspektiven stehen weitere Modelle, Konzepte und Ansätze zur Verfügung, die eine vertiefte Arbeit und Auseinandersetzung mit den Themen im Coaching und/oder Workshopsetting ermöglichen.

Macht entmystifizieren, um sie zu nutzen

Wir verstehen die 4 Perspektiven als eine Art Rahmen für die praxisnahe Klärung unserer individuellen persönlichen Haltung zu Macht. Ein auf dieser Basis von uns entwickeltes Workshopkonzept ermöglicht darüber hinaus, auch Machtdynamiken in Organisationen oder Teams zu erkennen und bearbeitbar zu machen. Auch für die Klärung der Frage, ob – und wenn ja – inwieweit Frauen und Männer unterschiedlich mit Macht umgehen, ist das Konzept hilfreich. Und schließlich bieten die Perspektiven einen Zugang, der dabei unterstützen kann, eine gemeinsame Sprache für Macht zu finden und sie damit zu entmystifizieren.

Die Art der Ausübung von Macht prägt die Unternehmenskultur

Besondere Relevanz haben die Perspektiven der Macht mit Blick auf Führung in Organisationen. Wir erleben eine Abkehr von alten postheroischen Bildern einer Führungskraft, die Top Down Macht gebraucht, um die eigenen Ideen und Vorstellungen umzusetzen. An diese Stelle tritt Führung, die Macht durch Sinnstiftung lebt, durch veränderte Arbeitsmethoden, eine andere Praxis der Machtausübung und auch Verantwortung über die Organisationsgrenzen hinausdenkt.

Für die praktische Umsetzung dieses zeitgemäßen Machtverständnisses im Kontext neuer Management-Ansätze und Theorien gibt es längst eine ausreichende Forschung, eine solide Empirie und ein erprobtes Instrumentarium. Doch weder passende Organisationsstrukturen mit flachen Hierarchien und autonomen Teams, noch niederschwellige Lern- und Feedbackschleifen oder eine neue Fehlerkultur können wirksam werden, wenn die Beteiligten und vor allem die Führungskräfte ihre individuelle Haltung zum Thema Macht nicht geklärt haben. Denn die neuen Managementkonzepte setzen eben voraus, dass Macht abgegeben, neu verteilt oder neu definiert werden.

Es lohnt also, auf die Machtperspektiven zu schauen, wenn es in Organisationen bei Fragen der Führungskultur oder der Umsetzung von agil(er)en Arbeitsmethoden hakt.

Plädoyer für einen bewussten Umgang mit einem mächtigen Phänomen

Perspektivvielfalt kann dabei unterstützen, neue Sichtweisen zu eröffnen. Wir wünschen uns, dass mehr Menschen über ihren Umgang mit dem Thema Macht nachdenken und die Chancen von Macht erkennen. Chancen können dann entstehen, wenn Macht mit Sinn, Verantwortung und einer entsprechenden Organisations-Praxis gepaart ist und wenn sie genutzt wird, damit Gutes entsteht. Ein reifer Einsatz unserer Macht wird mehr denn je gebraucht, um positiven Einfluss zu nehmen in Organisationen, auf unsere Umwelt, ökologisch und gesellschaftlich. Mut zur Macht!

 

Literaturempfehlungen:

  • Bauer-Jelinek, C. (2009). Die helle und die dunkle Seite der Macht. Wie Sie Ihre Ziele durchsetzen, ohne Ihre Werte zu verraten. ecoWing
  • Han, B.-C. (2022). Was ist Macht? Reclam
  • Giernalczyk, T. & Möller, H. (2023). Agilität. Macht. Containment. In: Geramanis, O., Hutmacher, S. & Walser, L. (Hrsg.). Organisationale Machtbeziehungen im Wandel. Springer Gabler